Josef Wiesehöfer u.a. (Hg.): Carsten Niebuhr (1733-1815)

Titel
Carsten Niebuhr (1733-1815) und seine Zeit. Beiträge eines interdisziplinären Symposiums vom 7.-10.Oktober 1999 in Eutin


Herausgeber
Wiesehöfer, Josef; Conermann, Stephan
Reihe
Oriens et Occidens 5
Erschienen
Stuttgart 2002: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
453 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maurus Reinkowski, Lehrstuhl für Türkische Sprache, Geschichte und Kultur, Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Das stattliche Buch mit dem Gewicht eines Enzyklopädiebandes vereinigt 18 Beiträge zu Carsten Niebuhr und seiner berühmten Forschungsreise nach Arabien in den Jahren von 1761 bis 1767. Es war nicht vorauszusehen, dass diese erste wissenschaftliche Expedition mit dem Zielpunkt Arabia Felix (Jemen) so unlösbar mit dem Namen von Niebuhr verknüpft sein würde. Die von dem dänischen König Friedrich V. ausgerichtete und reichlich mit Geld ausgestattete Expedition umfasste als Teilnehmer – neben dem Kartografen und Vermessungsingenieur Carsten Niebuhr – den Philologen Frederik Christian v. Haven, den Botaniker Petrus Forsskal, den Maler Georg Wilhelm Baurenfeind, den Mediziner Carl Christian Cramer und einen schwedischen Diener namens Berggren. Das Ziel, wie es in der 1760 vom dänischen König erteilten Instruktion heißt, „so viele Entdeckungen für die Gelehrsamkeit [zu] machen, als ihnen möglich seyn wird“, schien durch den Verlauf der Expedition stark gefährdet. Schon bald nach der Abreise gerieten sich die Reisenden in die Haare. Als die Reisegruppe Konstantinopel erreichte, war Niebuhr an der Ruhr erkrankt, so dass er von der Stadt so gut wie nichts sah. Der Zwischenaufenthalt in Ägypten zögerte sich ein Jahr hinaus. Ein Abstecher auf den Sinai blieb erfolglos: Weder konnten Niebuhr und von Haven das Katherinenkloster betreten, geschweige denn dessen Bibliothek einsehen, noch fanden sie das Tal mit den sogenannten Sinaitischen Inschriften. Den Jemen erreichten die sechs erst im Dezember 1762. Anstelle des vorgesehenen mehrjährigen Aufenthalts beschloss die Reisegruppe schon nach wenig mehr als einem halben Jahr, geschwächt von der Malaria und vorgewarnt durch den Tod von Forsskal und von Haven, den Jemen so schnell wie möglich zu verlassen, und bestieg ein britisches Kaffeeschiff in Richtung Bombay. Nach dem Tod zweier weiterer Expeditionsteilnehmer auf der Reise und von Cramer im Februar 1764 in Bombay war Niebuhr als einziger zurückgeblieben. Er kehrte über den Persischen Golf, von dem er einen dreiwöchigen Abstecher zu den altiranischen Ruinen von Persepolis im März und April 1765 machte, über Konstantinopel und Südosteuropa nach Kopenhagen zurück. Dass die Expedition trotzdem zu einem Erfolg wurde, lag allein an Niebuhr: An seiner Fähigkeit, nach dem Tod der anderen Mitglieder über den ihm ursprünglichen aufgetragenen Arbeitsbereich des Mathematicus hinauszuwachsen; an seiner detailgenauen und zugleich vielfältigen Beobachtungsgabe; und an der unermüdlichen Herausgabe nicht nur seiner eigenen Werke, sondern auch der der anderen Reiseteilnehmer.

Conermann und Wiesehöfer als Herausgebern ist es gelungen, unterschiedlichste Stellungnahmen zu Niebuhrs Leben, Reise, Werk, Umfeld und Vermächtnis zusammenzuführen. Angesichts der Bedeutung von Karten und Plänen in Niebuhrs Werk sticht nur das Fehlen eines kartografischen Beitrags ins Auge (S. 14, 438). Die einzelnen Beiträge reichen von einer Beschreibung des Lebens von Niebuhr (aus der Feder von Dieter Lohmeier) und einer Charakterisierung anderer wichtiger Orientreisender des 18. Jahrhunderts (Michael Harbsmeier) über die Darstellung der politischen und kulturellen Verhältnisse im damaligen Konglomeratsstaat Dänemark (Michael Bregnsbo) hin zu Beziehungsdarstellungen: zu seinem Sohn, dem bekannten Historiker Barthold Georg Niebuhr (Gerrith Walther), zu Johann Gottfried Herder (Heide Hollmeier, Albert Meier) und zu den beiden Orientalisten Oluf Gerhard Tychsen (Martin Krieger) und Johann David Michaelis (Ulrich Hübner). Der Anspruch der Beiträge reicht von zwei nüchternen, äußerst kurz gehaltenen Beiträgen zu den in Kopenhagen liegenden „Niebuhriana“ (Stig T. Rasmussen) und zu Forsskals Forschungsergebnissen zur arabischen Lexikografie (Philippe Provençal), hin zu theoretisch ambitionierten Erörterungen des frühen Orientalismus (Stephan Conermann). Die andere Hälfte des Bandes widmet sich Darstellungen der wichtigsten Reiseetappen: Ägypten (Lucian Reinfandt), Sinai (Detlev Kraak), Jemen (Friedhelm Hartwig), Indien (Martin Brandtner), Alter Iran und Persepolis (Josef Wiesehöfer), zeitgenössischer Iran (Birgit Hoffmann), Konstantinopel und das Osmanische Reich (Gottfried Hagen).

Fünf Jahre nach seiner Rückkehr veröffentlichte Niebuhr 1772 seine „Beschreibung von Arabien“. Es folgten in drei Bänden die botanischen und zoologischen Arbeiten von Forsskal und in einem Band Baurenfeinds Kupferstiche. 1774 und 1778 wiederum brachte Niebuhr die ersten beiden Bände seiner „Reisebeschreibung nach Arabien und anderen umliegenden Ländern“ heraus. Dass der dritte Band erst 1837, 22 Jahre nach seinem Tod, erschien, muss auch mit der zuerst ausbleibenden Anerkennung und finanziellen Misshelligkeiten erklärt werden. Nachdem sein Förderer, der Chef der Deutschen Kanzlei in Kopenhagen, Johann Hartwig Ernst Graf von Bernstorff, gestürzt worden und der verhängnisvolle von Struensee (1770-1772) gescheitert war, wurde die Position der zahlreichen in Kopenhagen beschäftigen Deutschen, die nicht in dänischen Landen geboren waren, schwierig. Das „Indigienatsgesetz“ von 1776 gewährte ausschließlich denjenigen, die in den Staaten des Königs von Dänemark geboren waren, Zugang zu öffentlichen Ämtern. Niebuhr zog sich daher 1778 als Landschreiber in die Landschaft Dithmarschen zurück, um dort bis zum seinem Tod zu bleiben.

Die Präzision von Niebuhrs Karten und Inschriftenkopien wurde früh gerühmt. Seine Karten zum Roten Meer und zum Jemen blieben für die nächsten Jahrzehnte unübertroffen. Für seine äußerst exakten Kopien der achaimenidischen und sasanidischen Keilinschriften in Persepolis wurde Niebuhr aber erst berühmt, als Herder 1787 in seinem programmatischen Artikel „Persepolis. Eine Muthmaassung“ den vorderorientalischen Kulturen Persiens eine unabhängige Entstehungsgeschichte vom Mittelmeerraum zusprach und sich hierbei auf den „Beschreiber“ Niebuhr stützte (Herder reservierte für sich selbst den übergeordneten Status der „Erklärers“).

Dass Niebuhr keine orientalistische Ausbildung genossen hatte und er sich für manche, ursprünglich nicht vorgesehene Reiseziele nicht hatte vorbereiten können, war eher von Vorteil. Seine realistische Sicht der Kasten in Indien, die er als eine Art „Zünfte“ beschreibt, liegt wohl auch daran, dass er die gängigen Stereotypen in der europäischen Fachliteratur, die sich wiederum auf den normativen Diskurs der Hindupriester stützte, nicht kannte. Niebuhr gibt ohnehin zahlreiche Beispiele für die Relativität kultureller Werte und Erfahrungen. So erklärt er die Ablehnung von Kirchenglocken durch die Muslime nicht mit deren Intoleranz, sondern mit der fatalen Ähnlichkeit des Klanges mit den, den Eseln und Kamelen umgehängten Glocken. Sein Lob der Toleranz des Islams scheint sich aber zum Teil einfach aus seiner Abneigung gegenüber Orthodoxen und Katholiken zu erklären und ist – so mutmaßt Hagen – nur eine „Instrumentalisierung desselben in seinem innereuropäischen Diskurs“ (S. 321).

Die Beschränkungen und Beschränktheiten von Niebuhr werden in den Beiträgen deutlich benannt: Nahezu überall war Niebuhr auf die Angaben von Kaufleuten oder orts- und sprachkundigen orientalischen Christen angewiesen. Seine Kontakte zur Bevölkerung und seine Einsicht in die dortigen Gesellschaften gingen letztlich nicht über die eines normalen europäischen Handlungsreisenden hinaus. Das Angebot des damaligen herrschenden Imams in Sanaa, für ein Jahr in der Hauptstadt zu bleiben – eine einmalige Gelegenheit, die jemenitische Gesellschaft besser kennenzulernen – schlugen die Expeditionsteilnehmer angesichts ihrer stark angeschlagenen Gesundheit aus. Die Schwächen und Wahrnehmungsdefizite von Niebuhr ergeben aber nicht ein stimmiges Bild: So ignorierte er in Ägypten alle Zeugnisse der islamischen Hochkultur und Architektur und pflegte ein Ägyptenbild mit pharaonischer Kultur in Vergangenheit und Alltagskultur in der Gegenwart. In Konstantinopel hingegen nahm Niebuhr die osmanischen Moscheen wahr, ignorierte aber das antike und byzantinische Erbe. Auf seiner Rückreise und in den Europäern wohlvertrauten Regionen wie Palästina und Anatolien ließen Niebuhrs Sorgfalt, Offenheit und Dialogbereitschaft mit fremden Kulturen stark nach. Seine feine Ironie schlug nun – auf der Rückreise und schon fast im sicheren Port der Heimat – des öfteren in Sarkasmus um und seine ansonsten so rühmliche Präzision bei Vermessungen ließ nach.

Die in dem Band versammelten Beiträge führen die bisherige Einschätzung Niebuhrs und seines Werkes als verlässlich, exakt, detailgetreu, realistisch, stets differenzierend, weitgehend frei vom europäischen Selbstlob und erzpragmatisch mit nur einigen Abstrichen fort (siehe hierzu auch die Schlussbewertung durch Ludolf Kuchenbuch). Allein Conermann wandelt in den Spuren von Edward Saids Orientalism (1978), wenn er die leicht aufgebauschte These aufstellt, dass das “orientalistische Diskurspotential der Aufklärung durchaus die Grundlagen für die später so massiv betriebene Aneignung der Vergangenheit nichteuropäischer Kulturen durch den Westen geliefert hat“ (S. 431), und dass damit auch das reine Sammeln von Daten, wie von Niebuhr betrieben, keineswegs unverdächtig sei. Brandtner hält dagegen weiter daran fest, dass dem Werk Niebuhrs „wesentliche Kennzeichen des Orientalismus im Sinne Saids“ (S. 238) fehlen. Ohnehin ist für die in dem Sammelband vereinten Beiträge eher Jürgen Osterhammels Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert (1998) Vorbild und Bezugspunkt. Grundlegend neue Ansichten zur Theorie der Reiseliteratur oder zu europäischen Repräsentationen „des Orients“ wird man nicht finden. Dafür wird der Leser mit einer großen Fülle von dichten Einzelbeschreibungen und gelungenen Beobachtungen entlohnt.